Theater Chur

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Posthumanes Musiktheater – eine Einführung

19.01.2024 — von Thom Luz

In «Das irdische Leben» arrangieren der Schweizer Regisseur Thom Luz und sein Ensemble Gustav Mahlers Lieder und Sinfoniefragmente für mehrstimmige Gesänge, klingende Heizungsradiatoren, versteckte Klaviere und unsichtbare Streichinstrumente.

Unser neues Stück «Das irdische Leben» ist inspiriert von Gustav Mahlers Musik – insbesondere durch seine Lieder. Die zu hörenden Musikstücke werden nicht mit klassischen Instrumenten gespielt und sind auch keine grossen Orchesterarrangements, sondern wir spielen sie auf seltsamen, behelfsmässigen und untypischen Instrumenten oder Gegenständen.
Die Idee von Luz und seinem Ensemble ist es, einen Bilderbogen zu erfinden, der das titelgebende «irdische Leben» mit seinen vielen Widersprüchen, Schwierigkeiten sowie kleinen und grossen Katastrophen reflektiert – aber auch die Wunder und Schönheiten, die wir Erdbewohner*innen antreffen.
Der Abend erzählt von einer Gruppe Musikerinnen und Musiker, die versucht, Mahlers Musik aufzuführen, und dabei immer wieder gestört wird. Der Raum, in dem sich das Publikum befindet, ist in der Version von Luz und Ensemble kein klassischer Konzertsaal, sondern eine Abstellkammer mit Überresten verschwundener Gesellschaften. Die Musikerinnen und Musiker finden sich plötzlich gestrandet und eingesperrt, getrennt von ihren Hauptinstrumenten Cello, Geige, Klavier und Orgel. Sie versuchen nun, ihr musikalisches Leben in dem provisorischen Raum weiterzuführen. Eine Rückkehr zur Normalität gibt es nicht, der Ausgang dorthin ist versperrt. So beginnt eine musikalische Robinsonade, in der sich Mahlers Themen auf überraschende Art und Weise neu manifestieren. Mahlers Musik erzählt immer von zwei Welten, die miteinander in Konflikt stehen: Der jugendliche, unschuldige, freudige Blick auf die Welt steht im Kontrast zu einer grossen Trauer über die Endlichkeit des menschlichen Lebens und Wirkens. Man hört gleichzeitig fröhliche Tanzmusik, aber auch martialische Marsch- und Kriegsgesänge. Vogelgesänge und Waldesrauschen mischen sich mit der Ahnung von Untergang und Bedrohung.
Wie in Mahlers Liedern wandeln sich die einzelnen Motive im Stück: Ein kleines, fröhliches Wanderlied kehrt später wieder und erklingt als bedrohliches Marschlied einer herannahenden Armee. Später wird es von einem religiösen Gesang, der die Sinn- und Trostsuche der Menschen im Angesicht der Bedrohung repräsentiert, überdeckt.
Gustav Mahler war sehr geräuschempfindlich. Plötzlichen Lärm empfand er als störend, insbesondere beim Komponieren. Solche Störgeräusche tauchen auch in der Inszenierung auf.
Sie erzählen von einer Welt, in der Maschinen und Geräte plötzlich ein unheimliches Eigenleben entwickeln und das Leben auf der Erde und die Position des Menschen vor neue, noch nie da gewesene Herausforderungen stellen.
Wir erleben in diesem Stück aber auch viele Momente des Humors oder der absurden Gleichzeitigkeit einer traurigen, tiefen Betrachtung über die Welt, die mit musikalischen Karikaturen und Kontrapunkten kombiniert wird. So wie im richtigen Leben, wo das Traurige und Absurde oft dicht beieinander liegen oder gleichzeitig stattfinden.
Für seine Musik hat Mahler den Orchester-Klangkörper erweitert – er liess z. B. seine Kontrabässe einen Ton tiefer stimmen. Deswegen steht im Bühnenbild ein grosser Bassverstärker, der tiefe und tiefste Frequenzen erzeugen kann. Auch einen Amboss hatte Mahler im Orchester platziert, der mit einem Hammer an einer bestimmten Stelle als Perkussionsinstrument eingesetzt werden konnte. Bei Luz werden Heizungskörper, leere Wasserkanister und eine Klimaanlage zu Instrumenten oder eigenständig musizierenden Androiden.
Die im Stück verwendeten Texte stammen ebenfalls aus Mahlers Liedern und Sinfonien. Eine Ausnahme bildet eine Geschichte des Science-Fiction-Autors Philip K. Dick. In dieser wird ein hilfloser Rettungsversuch des geistigen Erbes unserer Zivilisation beschrieben. Auch das ein typisch mahlersches Thema: die Ewigkeit und die Frage, was von uns Menschen übrig bleiben wird.