Theater Chur

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Geschichte einer stabilen Erosion

27.10.2022 — von Mariano Tschuor

Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? So einfach die Fragen auch klingen: Sie gehen an die Substanz des Menschen, wühlen alles auf. Wohin sie führen, ist ungewiss, wie der Verlauf eines Lebens. Wird man aufgefressen, oder kommt man davon? Kann man in Fröhlichkeit heiter weitermachen, oder muss man in den Schatten der Abendstunden darben? Stolziert man als Flaneur chic durch Alleen, oder verzweifelt man als Getriebene in den Gassen? Ob dieser oder jener Weg eingeschlagen wird: Die Sehnsucht nach Geborgenheit ist allen Menschen gemein.

Cla Biert hat es vorgemacht («La Müda- da»), Flurin Spescha («Das Gewicht der Hügel»), Leo Tuor («Giacumbert Nau»), Arno Camenisch («Der Schatten über dem Dorf») ebenfalls. Weitere Namen von Autor*innen aus Graubünden – und von anderswo – könnten leicht hinzugefügt werden. Nun folgen Roman Weishaupt, Bruno Cathomas, Rafael Sanchez und Duri Bischof. Nicht mit einem Buch, sondern mit einem Theaterprojekt, genauer: einem «Monologabend». Im Blickfeld steht genau diese eine grosse Frage: «Wer bin ich?» Sie wird von allen Menschen in allen Zeiten und Generationen immer wieder gestellt.

2001 kam es in Laax zur Theateraufführung von Wedekinds «Frühlings Erwachen», in einer romanischen Fassung von Rita Cathomas-Bearth, «Ei catscha primavera». Gespielt wurde in einer Scheune, drei Schritte von der Kirche entfernt. Die Proben zu diesem Stück über eine Jugend weckten die öffentliche Neugierde: Es gehe um Sexualität, hiess es hinter vorgehaltener Hand, präziser, um Schwule. Das biedere, verlogene Milieu der erwachsenen Welt im Theaterstück fand sein Gegenüber in der realen Welt. Bruno Cathomas, damals 36-jährig und erfolgreicher Schauspieler, spielte den vermummten Herrn, reiste aus Basel oder Berlin zu den Aufführungen an. Roman Weishaupt, 22-jährig, Lehrer, liess sich überzeugen, einen der Herren zu spielen, und verliebte sich in das Theater. Ein Jahr später begann er die Ausbildung zum Theaterpädagogen in Zürich.

Für Bruno war dieser Auftritt so etwas wie ein Dankeschön an die Cumpagnia da teater Laax, in der er 20 Jahre zuvor seine Emanzipation begonnen hatte. Darüber hinaus war es auch der Versuch einer Annäherung an das Dorf seiner Jugendzeit, das er mit Wut und Schmerz verlassen hatte und das für alles stand, was er ablehnt, ja verabscheut: Heuchelei, Lüge, Doppelbödig- keit, Intoleranz, Repression. In Zeitungsinterviews und Talkshows hatte er sich in derber Sprache über das Dorf – und damit über ein System, das weltweit in miefen Gesellschaften anzutreffen ist – ausgelassen. Die Kritik und seine ungeschminkte Offenheit kamen – wen wundert’s – nicht gut an. Nun war er – 2001 – zurück und spielte den vermummten Herrn, der als Deus ex machina am Ende von «Frühlings Erwachen» in einem einzigen Auftritt dem Tod ein Schnippchen schlägt und der ganzen Mühsal einen Sinn gibt. Bruno wurde gefeiert: An der Premierenfeier klopften ihm alle auf die Schulter und posaunten mit geschwellter Brust: «In dils nos (Einer von uns)!» Der Star duckte sich einmal mehr, zog seinen grossen Kopf in seinen massigen Körper ein, traute der Sache nicht ganz. «Versteht ihr mich? Könnt ihr nachvollziehen, wie ich denke und wofür ich einstehe?» Auch bei mehr als nur einem Bier mit Schulkameraden lassen sich Verletzungen – oder sind es Projektionen? – nicht aus der Welt schaffen.

Er kam ein weiteres Mal zurück, 2009, und legte sich enorm ins Zeug. Das ganze Dorf folgte ihm bei den Proben zu Shakespeares «Sommernachtstraum» in der Übersetzung von Leo Tuor, «In siemi dalla notg sogn Gion», das als Freilichtspiel am Laaxer See aufgeführt wurde. Mit voller Wucht trieb er die Leute zum Spiel an, setzte seine ganze Körperlichkeit ein, die bei aller Kraft so viel Zärtliches und Fragiles hat. Er begeisterte mit seiner Regiearbeit Spieler und Publikum und hielt – nicht ganz unkokett – nach den Vorstellungen Hof. Pardon, es war mehr als das. Er war auf Mission: «Geht euren eigenen Weg, fragt nach, passt euch nicht an.» Kaum einer wagte zu entgegnen, die Jungen schon gar nicht, die anderen scheiterten kläglich in ihrem Versuch, mit Sprüchen zu punkten. Bruno – so schien es mir – war ungemein gereift. Mehr als er sich je hätte träumen lassen. Als 17-Jähriger rannte er ständig davon, am meisten vor sich selbst, buhlte um Anerkennung, wollte nicht nur als Spassvogel wahrgenommen werden. Später – als er an der Volksbühne in Berlin tätig war – konnte er durchaus schnoddrig abgehoben wirken. Nun stand er – als bald 50-Jähriger – liebevoll vor einer versammelten Spielschar und sprach Liebesworte über die schöne romanische Sprache, den schönen romanischen Gesang, über die tollen schauspielerischen Leistungen der Laiendarsteller. «Ist Bruno angekommen?», fragte ich mich. «Schliesst er gerade Frieden mit sich selbst und mit seiner Jugendzeit?»

Wohl kaum. Die Energiequelle von Künstlern ist nicht die Anpassung, nicht die Bejahung. Künstler, die im lauwarmen Wasser des Allgemeinen dümpeln, geben sich auf. Ihr Dienst mag wohl- gemeint sein, ist aber bald vergessen.

Mit dem Projekt «Peiden» setzen sich Bruno Cathomas und das Team des Theaters Chur erneut mit dem Spannungsbogen zwischen Bleiben oder Gehen auseinander. Vielleicht muss die Ausgangslage gar nicht so radikal sein: Lebenskünstler zeigen, dass es durchaus Schnittmengen zwischen den Polen Hier und Dort gibt. Die Herausforderung liegt wohl darin, im Hier nicht in Depression abzugleiten und im Dort nicht in Melancholie zu verharren. Den Bewohner*innen der Alpenregionen wird eine besondere Eigenschaft zugesprochen: das Heimweh. Es gibt Bündner*innen, die behaupten, beim Verlassen der Tardisbrücke würden sie die erste Träne vergiessen. Andere sagen, Stadtluft mache frei. Beides, Heimweh und Fernweh, sind Stereotypen, nicht nur in der Literatur gut einsetzbar, sondern auch im Marketing.

Der Anspruch an das Projekt «Peiden» muss ein anderer sein: die Erosion. Dafür steht das Dorf am Hang im vorderen Teil der Lumnezia: Es rutscht weg. Der Hang gibt nach, die Häuser haben Risse, die Fundamente brechen ein. Diese Metapher, am Beispiel der Biografie von Bruno Cathomas und seiner Vorgeneration, die in Peiden-Bad das Kurhaus führte, muss weit über die Frage nach den Wurzeln hinausgehen. Ja, selbst weit über die Frage nach unseren vielen Identitäten, die nicht immer zusammenzubringen sind. Das Wegbrechen von Stützen, von tatsächlicher oder vermeintlicher Sicherheit, von Orientierungspunkten und Beziehungen macht den Menschen krank, lebensmüde. Bruno Cathomas kennt aus Erfahrung und Anschauung den Schmerz des Wegbrechens. Seine Biografie zeigt, wie sich ein Mensch – und Künstler! – mal behutsam, mal exzessiv den Erosionen des Lebens stellt.