Alles begann in Barcelona. Frank Fannar Pedersen und ich sassen im Juli 2022 in einem voll besetzten Saal am Grec Festival und erlebten «Story, story, die.» hautnah mit. Ich kann mich noch gut an den Moment erinnern, als der tosende Schlussapplaus langsam verebbte und das Saallicht die Gesichter des Publikums wieder erhellte. Während sich die Menschen um uns herum erhoben, ihre Sachen zusammenpackten und den Weg nach draussen an die frische Luft suchten, blieben wir beide noch lange sitzen. Niemand von uns sagte ein Wort, keiner rührte sich. Das Stück hatte etwas hinterlassen, das schwer zu beschreiben war. Es erschien mir in diesem Moment unmöglich, mich zu bewegen, geschweige denn von diesem Sessel aufzustehen und das Theater zu verlassen. Ich wollte noch etwas in dieser Welt bleiben, ich wollte noch etwas länger Teil dieser Geschichte sein. Noch nie zuvor hatte ich so etwas gesehen. Die Ästhetik und die Handschrift des mir damals noch gänzlich unbekannten Künstlers Alan Lucien Øyen hatten tiefe Spuren hinterlassen. Für mich war klar: Ich wollte diese Magie mit möglichst vielen Menschen zu Hause in der Schweiz teilen. Wenige Monate später war der Entscheid gefällt und die Kompanie winter guests mit «Story, story, die.» programmiert. Doch was ist es, was uns als künstlerisches Leitungsteam so sehr an Øyens Arbeit fasziniert? Wie kein anderer verwebt der Norweger Bewegung und Text zu einem dichten Geflecht, das das Publikum sofort in seinen Bann zieht. Hohe Präzision in Ausdruck und Spiel unterstreichen die entstehende Intensität und versetzen die Zuschauer*innen in ein anhaltendes Staunen. Alan Lucien Øyen ist selbst Dramatiker, Regisseur, Choreograf und in all diesen Disziplinen zu Hause. Seine filmisch geprägte Handschrift in Kombination mit der Auswahl an dringlichen und zutiefst menschlichen Themen macht ihn langsam, aber sicher zu einem der gefragtesten Künstler*innen unserer Zeit. Wir freuen uns sehr, dass wir ihn im Rahmen des Migros-Kulturprozent-Tanzfestivals Steps erstmals in die Schweiz einladen können.

Story, story, die.

«Please: Watch Me, Want Me, Hug Me, Hold Me, Hurt Me, Hate Me, Help Me, Hide Me, Stop Me, Try Me, Trust Me, Kiss Me, Kill Me, Catch Me, Keep Me, Remember Me, Call Me, Find Me, Fuck Me, Follow Me, Fake Me, Like Me, Love Me, Love Me, Love Me, Love Me, Love Me…»

«Story, story, die.» ist gemeinsam mit Øyens interdisziplinärer Kompanie winter guests entstanden und wurde 2019 im Dansens Hus in Oslo uraufgeführt. Der Titel ist eine Anlehnung an ein Erzählspiel, bei dem die Spielenden im Kreis sitzen und gemeinsam eine Geschichte erzählen. Die Spielleitung kann zu jeder Zeit eingreifen und eine neue Person auffordern, den Faden weiterzuspinnen. Wer zu langsam ist oder zögert, «stirbt» bzw. scheidet aus. «Story, story, die.» bringt diese Dynamik auf die Bühne, denn für Øyen verbirgt sich dahinter eine Metapher für das Leben: Ständig müssen wir eine passende Geschichte bereithalten, und zwar in einem wahnsinnig hohen Tempo, das uns insbesondere die sozialen Medien vorgeben. Der Druck, gemocht zu werden, lastet schwer auf unseren analogen und digitalen Schultern: Täglich gilt es, attraktive Inhalte zu generieren und zu teilen oder eben zu «sterben». In selbstgeschriebenen Texten wird das Verhältnis zwischen Lüge und Liebe thematisiert. Was tun wir, um gemocht zu werden? Das Stück erforscht, wie wir Menschen unser tägliches Leben ständig neu arrangieren. Dabei entlarvt es immer wieder, wie wir die Realität für andere inszenieren, uns aber selbst dabei belügen – mit schwerwiegenden Konsequenzen…

Migros-Kulturprozent-Tanzfestival Steps

Was das Gründerpaar der Migros, Adele und Gottlieb Duttweiler, vor fast 100 Jahren mit ihrer Idee des rollenden Einkaufswagens angestossen hat, funktioniert auch für den Tanz: Seit über drei Jahrzehnten bringt das Migros-Kulturprozent-Tanzfestival Steps den Zauber des zeitgenössischen Tanzes zu den Menschen – und zwar in alle Ecken der Schweiz. Gemeinsam mit rund 30 Partnerinstitutionen findet das Festival alle zwei Jahre während knapp vier Wochen statt. Von grossen Bühnen in den Ballungszentren bis zu den kleinsten Spielstätten auf dem Land: Internationale und nationale Kompanien touren gleichzeitig durch die ganze Schweiz und erreichen mit mehr als 50 Vorstellungen ein breites Publikum in allen Regionen. Zu den wichtigsten Commitments des Festivals zählen die beiden Themen Inklusion und Nachhaltigkeit. Die nächste Ausgabe von Steps findet vom 24. April bis zum 19. Mai 2024 statt.

Story, story, die.

Tanzfestival Steps: winter guests / Alan Lucien Øyen

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