Theater Chur

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Was ist eigentlich zeitgenössischer Zirkus?

19.01.2024 — von Mirjam Hildbrand

In «EXIT» der belgischen Kompanie Circumstances bewegen sich vier Zirkuskünstler waghalsig und gekonnt in einer imposanten Bühnenkonstruktion aus mobilen Wänden und schwebenden Türen – ein einstündiger Flirt mit dem Risiko.

«EXIT», zeitgenössischer Zirkus. So steht es im Programm des Theaters Chur. Aber was genau ist eigentlich zeitgenössischer Zirkus? Beim Begriff «Zirkus» denken wir – oder die allermeisten von uns – an den Circus Knie und den Cirque du Soleil, an Zirkuszelte, Clowns, Tiere, atemberaubende Darbietungen und an viele Kinder im Publikum. Aber was hat es nun mit dem «zeitgenössisch» vor dem «Zirkus» auf sich?
Unter «zeitgenössischer Zirkus» wird sowohl in der Fachwelt als auch bei unseren französisch oder flämischsprachigen Nachbarn eine Form der darstellenden Künste verstanden, deren Anfänge im Frankreich der 1970er-Jahre zu suchen sind. Im Fahrwasser der 68er- Bewegung begannen damals junge Kreative, die selber nicht aus traditionellen Zirkusfamilien stammten, an der Schnittstelle von Zirkus und Theater zu experimentieren – auch mit der Idee, eine breit zugängliche und ihren gesellschaftlichen Visionen entsprechende Theaterform zu entwickeln. Ihre Theaterarbeiten wurden zunächst als «Nouveau Cirque» bezeichnet, zu Deutsch «Neuer Zirkus». Mit dem Adjektiv «Nouveau» wird dabei auch verdeutlicht, dass diese Zirkusformen nicht mit dem klassischen Wanderzirkus mit Zirkuszelt, Manege, Nummernprogramm und dressierten Tieren gleichzusetzen sind. Ende der 1990erJahre gesellte sich zu «Nouveau Cirque» dann der Begriff «Cirque Contemporain». Die begriffliche Verschiebung von «neuem» hin zu «zeitgenössischem» Zirkus verweist auf einen Wandel im Feld des Zirkusschaffens: Die Arbeiten einer neuen Generation von Zirkuskünstler*innen lösten sich immer mehr von dem stark vom Theater geprägten Ansatz, mit den Mitteln des Zirkus Geschichten zu erzählen. Zahlreiche Zirkuskompanien und -künstler*innen arbeiten also inzwischen seit über 20 Jahren an den Schnittstellen zu anderen Kunstformen wie dem zeitgenössischen Tanz, der Performancekunst und den Bildenden oder auch den Medienkünsten. So auch die belgische Kompanie Circumstances, die nun mit «EXIT» in Chur zu Gast ist. Gegründet wurde sie 2021 vom jungen belgischen Choreografen Piet van Dycke mit dem Ziel, Produktionen zu erarbeiten, die sich irgendwo zwischen Zirkus und Tanz bewegen.
Zirkus galt und gilt je nach geografischem Kontext immer noch als privatwirtschaftlicher Gewerbezweig und nicht als Kultur. In Frankreich veränderte sich die Perspektive auf den Zirkus ab Ende der 1970er-Jahre. Um dieser Entwicklung Rechnung zu tragen, wurden ab 1980 verschiedene Fördermassnahmen für Zirkuskünstler*innen ins Leben gerufen; dazu zählt auch die Gründung staatlicher Zirkusschulen. Seither werden die zirzensischen Körperpraktiken verstärkt ausserhalb von Zirkusfamilien weitergegeben. Die Absolvent*innen dieser Ausbildungsstätten trugen und tragen massgeblich zur Entwicklung der aktuellen Zirkusformen bei, die sich vielfach weit von der uns bis heute geläufigen Vorstellung von Zirkus entfernt haben.
Auch die vier Akrobaten, die in «EXIT» auf der Bühne zu erleben sind, haben verschiedene europäische Zirkushochschulen absolviert: Samuel Rhyner (CH) studierte in Tilburg (NL) und spezialisierte sich auf Tanzakrobatik, Christopher McAuley (IR) und William Blenkin (GB) schlossen ihre Zirkusausbildungen mit Fokus auf Trapez- und Partnerakrobatik beziehungsweise mit Fokus auf Luftakrobatik in Rotterdam ab, und Luuk Brantjes (NL) liess sich in der Disziplin Schleuderbrett an den Zirkusschulen in Rotterdam und Stockholm ausbilden. Gemeinsam sind sie seit 2022 unter dem Dach der Kompanie Circumstances mit ihrem Stück in den Niederlanden, in Belgien, Deutschland, England, Spanien und Portugal unterwegs.
Öffentliche Zirkushochschulen, Zirkusfestivals und vielfältige Zirkusproduktionen von international tourenden Zirkuskompanien sind heute also nicht mehr nur in Frankreich selbstverständlicher Teil der Kulturlandschaft, sondern auch in den Niederlanden, in Belgien und Schweden sowie in Kanada, England, Finnland, Tschechien, Italien und Spanien.
Seit der Etablierung von Zirkusausbildungsstätten in Europa und Kanada ab Mitte der 1980erJahre haben sich auch zahlreiche Schweizer*innen im Ausland zu Zirkuskünstler*innen ausbilden lassen. Jedoch sind nur wenige von ihnen in die Schweiz zurückgekommen, da hier bis heute nur wenige geeignete Arbeitsinfrastrukturen und Förder- sowie Spielmöglichkeiten bestehen. Erst seit etwa zehn Jahren erfahren die aktuellen Zirkusformen auch hierzulande Aufschwung und Resonanz: Zirkuskünstler*innen gründeten einen Berufsverband und an verschiedenen Orten in der Schweiz Zirkusfestivals sowie Zirkusorte. Und inzwischen haben auch Theaterspielstätten begonnen, Zirkusstücke in ihr Programm aufzunehmen – mit «EXIT» auch das Theater Chur.

«EXIT» bedeutet Ausgang. Ausgänge gibt es in diesem Zirkusstück einige, sie sind zugleich Eingänge. Durch mehrere Türen treiben, tragen, heben und werfen sich die vier Akrobaten in atemberaubendem Tempo. Eine Bühnenkonstruktion aus mobilen Wänden und schwebenden Türen rahmt die rasanten Choreografien und fordert die vier Künstler heraus: Klettern, springen, Balance halten und bloss das richtige Timing nicht verfehlen! An dieser Stelle soll aber natürlich nicht zu viel vorweggenommen werden, nur so viel sei gesagt: Mit spektakulären Überraschungen muss in diesem zeitgenössischen Zirkusstück gerechnet werden. Und wie so oft im Bereich des Zirkus ist «EXIT» ohne bestimmte Sprachoder sonstige Vorkenntnisse zugänglich und zieht nicht nur ein junges Publikum (ab 8 Jahren) in seinen Bann, sondern betört auch erwachsene Zuschauer*innen.