Theater Chur

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Gedanken zu TELL von Joachim B. Schmidt

29.01.2024 — von René Schnoz

Kennen Sie das – Sie sehen einen Film, in dem Ihre Heimat gezeigt wird, so wie kürzlich «Davos 1917», und ein Befremden stellt sich ein: «Das ist doch gar nicht Davos!», oder: «Das soll das Prättigau sein?» Filmer futieren sich oft um die örtliche und sprachliche Wahrhaftigkeit, zeigen lieber schöne Landschaften oder nehmen bekannte Schauspieler*innen, die aber nicht aus der Gegend kommen. Oder die Landschaft ist heute halt so verbaut, dass man keine Kulisse um die Jahrhundertwende zeigen kann. Oder auf einmal sprechen in Italien alle Deutsch, weil Commissario Brunetti von der ARD produziert wird. So ähnlich geht es mir, wenn ich den «Wilhelm Tell» von Schiller lese. Ich lese Deutsche Dichtkunst, die himmelweit entfernt ist von der Sprache, die im Urnerland gesprochen wurde. Schiller legt den Einheimischen Wörter in den Mund, die sie nie und nimmer sagen würden. Selbst der einfachste Tagelöhner spricht, als hätte er einen Master in Germanistik. Da macht es uns Joachim Schmidt mit seinem Tell schon einfacher. Er scheint sich stets zu fragen: Was für ein Mensch steckt hinter dieser oder jener Figur? Wie spricht diese, wie denkt sie? Er lässt sie meistens in Monologform zu Wort kommen, und so erfahren wir viel mehr über das Innenleben der Urner*innen und Habsburger*innen als bei Schiller. Die Wehrhaftigkeit der Urschweizer*innen, ihr Drang, die Unterdrückung zu beenden, die Gründung der Urschweiz, das alles kommt bei Schmidt erstaunlicherweise gar nicht vor. Es geht stets nur um individuelle, aus der Situation heraus entstandene Aktionen und Reaktionen. Tell selber ist ein mürrischer, wortkarger Mensch, wobei wir auch hier erfahren, warum er so geworden ist. So taugt dieser Tell weit weniger für ein Revolutionsepos, dafür mehr für ein Sittenbild rund um unseren Nationalhelden. Auch wenn bei Schmidt die Menschen echter daherkommen, hat mich bei seiner Umsetzung die Sprachmelodie gestört, denn auch bei Schmidt sprechen die Protagonisten Hochdeutsch. Also habe ich das Experiment gewagt, die Urner*innen Urnerdeutsch und die Habsburger*innen Österreichisch sprechen zu lassen. Da ich aber keine zwölf Schauspielende aus Österreich und dem Kanton Uri über Wochen in Chur proben lassen kann, haben wir ihre Stimmen aufgenommen, unterlegt mit einem grossartigen Soundtrack. Gespielt werden die Figuren nun von Bündner und Liechtensteiner Bewegungsspieler*innen und Tänzer*innen. Mit Innerschweizer Masken, vor einem live gezeichneten Bühnenbild. Das heisst also, wenn auch die akustische Ebene so authentisch wie möglich sein soll, so abstrakt ist die restliche Erzählweise. Oder anders gesagt: Wir behaupten gar nicht erst, die visuelle Situation abzubilden – das macht die Fantasie unseres Publikums.

PS: Mir ist schon bewusst, dass die Urner*innen vor 700 Jahren ein anderes Urnerdeutsch gesprochen haben als heute. Diese Finesse überlasse ich allerdings den Germanisten. Ebenfalls bekannt ist, dass Habsburger*innen auch aus Süddeutschen, Elsässer*innen und Aargauer*innen bestanden. Immerhin spricht Schiller in seinem Tell von Österreicher*innen, und so geht das Österreichische für mich in Ordnung.